Leseprobe aus

... den Himmel mit Händen fassen

 

Auszug aus dem 1. Kapitel

Leise drang die Melodie der Kedusha in meinen Traum. Wie immer tauchte ich rasch und unmittelbar aus tiefem Schlaf auf. Auch heute oder vielleicht… gerade heute, obgleich der Wecker sehr zeitig geläutet hat. 4 Uhr, Freitag, der 24. Februar.

In zwei Monaten werde ich 60, schoss es mir durch den Kopf, als ich wie jeden Morgen noch vor dem Duschen und Anziehen barfuß in die Küche lief, um die Kaffeemaschine anzustellen. Im Flur standen Koffer und Reisetasche. Ich musste mich beeilen, für den Flug nach Israel sollte ich drei Stunden vor Abflug der Maschine am Flughafen sein.

Als ich den Wagen aus der Garage lenkte und durch die einsam dunklen Straßen des kleinen Dorfes fuhr, fing ich an zu singen, ich spürte nicht die Kälte des Wintermorgens, nur dieses beschwingte Gefühl der Vorfreude auf meine Reise, das mir fast den Atem benahm.

Ich dachte daran, wie es früher gewesen war. Nie gab es eigene Reisen. Ich begleitete höchstens Ulrich bei einer seiner Geschäftsfahrten. Und dann noch die Urlaube mit unseren beiden Kindern Rebecca und David. Heute lebte Rebecca in Madrid als Lehrerin an der deutschen Schule, David war Entwicklungshelfer auf den Philippinen.

Und Ulrich? Vor acht Jahren die Scheidung.

Nach der Scheidung war ich in meinen Beruf als Fotografin zurückgekehrt. Ich stürzte mich damals voller Begeisterung in die Erfahrung dieses neuen Lebens und… dachte voll Trauer an die verlorenen Träume meiner Vergangenheit.

Kurz nach Weihnachten war Mutter gestorben. Seltsam war der Brief von Kristina, den ich Wochen danach erhielt. Sie lebte die letzten Jahre mit Mutter zusammen. Im Nachlass hatte sie einen dicken, fest verschlossenen Umschlag gefunden. Er war… an mich adressiert. Im Umschlag fand ich ein Schulheft, mehrfach mit einem Band umwickelt. Immer wieder hatte ich dieses Päckchen in die Hand genommen. Hatte es hin und her gedreht. Weggelegt und wieder hervorgeholt. Und… mich doch nicht getraut, das Band zu lösen. Wovor hatte ich Angst? Was wollte Mutter von mir? Drängende Fragen und dennoch öffnete ich das Heft nicht. Vielleicht wollte ich mich im Augenblick nicht mit anderen Erfahrungen und Erinnerungen belasten.

Dann hatte ich das dünne Buch doch ganz unten in den Koffer gelegt...

Nichts hielt mich hier. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich ungebunden. Ich habe Zeit, und ich habe einen Traum. Ich will Israel kennen lernen.

Als ich durch die kalte Februarnacht zum Flughafen fuhr, fragte ich mich wieder einmal, wie schon so oft zuvor, woher dieses fast unverständliche Gefühl einer Bindung an Judentum und Israel kam. War es der dumpfe Hass des Vaters auf alles Jüdische, gegen den sich schon das Kind auflehnte? Oder… war es die Mauer des Schweigens, an der alle Fragen abprallten, die ich erst Jahre nach dem Krieg stellte? Fragen nach Judenverfolgung, Konzentrationslagern und der Verantwortung dafür?

Und doch war es gerade dieses Schweigen der Eltern, das mein Interesse wach hielt.

Erst las ich die Geschichten aus dem Alten Testament, das Schicksal Abrahams, der seinen Sohn Isaac opfern sollte. Moses einsam auf dem Berg Nebo, von dem aus er das Gelobte Land sehen konnte, ohne es betreten zu dürfen.

Oder die Geschichten über die Arche Noah. Alles viel spannender für meine Kinderphantasie, als die Gleichnisse und Bibeltexte unseres Religionsunterrichts.

Als ich älter wurde, folgten die Dichter und Schriftsteller, deren Bücher auf großen Scheiterhaufen 1933 vom Pöbel verbrannt worden waren. Hatte Franz Werfel schon Jahre zuvor mit seiner Novelle die wirren Entschuldigungen und Ausflüchte der Nachkriegszeit vorweggenommen, als er ihr den Titel gab. „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig?“

Bis ich wieder zum Alten Testament zurückkehrte, zum Buch Hiob: „Zum Trauergesang wurde mein Harfenspiel, mein Flötenspiel zum Klagelied und mein Singen zum Weinen.“

Diesem Weinen auf die Spur kommen, um endlich nicht mehr nach verschwiegener Schuld fragen zu müssen?

 

Auszug aus dem 5. Kapitel

Am nächsten Morgen stand ich schon vor sechs Uhr auf dem kleinen Balkon meines Zimmers. Den Sonnenaufgang, den Jonas so bildhaft beschrieben hatte, wollte ich nicht versäumen. Ich wunderte mich wieder einmal, dass ich solche Worte, wie er sie gestern für den Sonnenaufgang über dem See Genezareth benutzt hatte, nicht übertrieben fand. Gefühlsäußerungen waren mir in den letzten Jahren so fremd geworden.

Ein leichter Wind hatte sich erhoben, der auf der Oberfläche des Wassers kleine, verspielte Wellen aufbaute. Langsam stieg der Sonnenball über dem Horizont auf. Färbte den Himmel in Rot und Blau, die Ränder kleiner Wolken leuchteten golden. Die Luft flimmerte in Farben und vergaß ihre nüchterne Lebensnotwendigkeit. Erste Sonnenstrahlen glitten zögernd über den See.

Das Wasser schien zu brennen und aus der Morgendämmerung stiegen die Hügel Tiberias zu beiden Seiten des Hotels empor. Die Hochhäuser konnte ich von meinem Balkon aus nicht sehen. Tiberias wurde für mich zu dieser Stunde zu dem Fischerdorf von vor zweitausend Jahren. Malerisch an diesem biblischen See gelegen.

Lange blieb ich auf dem Balkon stehen. In den Anblick der aufsteigenden Sonne versunken. Gefangen vom Wechselspiel der Farben. Ein leichter Dunst über der Landschaft verstärkte die verträumte Unwirklichkeit der morgendlichen Stimmung.

Endlich wandte ich mich ins Zimmer zurück und holte den Brief meiner Mutter aus der Schublade meines Nachttisches, wo ich ihn gestern sorgsam aufbewahrt hatte. Langsam öffnete ich den Umschlag und löste das Band, das um das Heft geschlungen war. Auf einem kleinen weißen Schild stand "für Sophie".

Es war die steile Handschrift meiner Mutter. Ein Schatten wehte mich an, und ich meinte, ihren vertrauten Geruch zu atmen. Nun war sie schon monatelang tot und ich saß heute auf einem Balkon in Israel und hielt eine Botschaft von ihr in Händen...

Entschlossen öffnete ich das Heft. Auf der ersten Seite stand nur ein Datum, Mai 1990 und wieder "für Sophie".

Warum hatte sie gerade damals an mich geschrieben? Und warum hatte sie mir das Heft nicht persönlich übergeben? Wie viel Geheimnistuerei. Fast ärgerte ich mich. Aber dann siegte die Neugier. Und ich fing zögernd an zu lesen.

 

"Liebe Sophie, wenn Du diese Zeilen liest, werde ich bereits tot sein. Ich bat Kristina, Dir das Päckchen erst nach meinem Tod zu schicken. Warum? Vielleicht habe ich Angst davor, Rechenschaft ablegen, Fragen beantworten zu müssen. Vielleicht habe ich überhaupt Angst davor, mit Dir zu sprechen. Nähe zu meinen Kindern war mir nie gegeben. Heute tun mir diese Worte nicht mehr weh. Ich habe gelernt, mich zu akzeptieren. Vor allem weiß ich, dass ich nichts mehr ändern kann. Aber es gibt Dinge, die möchte ich regeln, solange es nicht zu spät ist. Noch fühle ich mich, Gott sei Dank, im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte. Klingt das zu juristisch? Soll es wohl auch, damit Du eines Tages, wenn Du diese Zeilen lesen wirst, weißt, alles, was ich Dir hier mitteile, ist mir auch heute noch in allen Einzelheiten gegenwärtig. Ich erinnere mich daran, als sei es vor kurzem gewesen. Du weißt, alte Menschen erinnern sich eher an etwas lang Vergangenes als an das Telefongespräch von gestern. Ich bitte Dich, mir jedes Wort zu glauben. Du wirst mich vielleicht von einer Seite kennen lernen, die Du nie bei mir vermutet hast. Ich bitte Dich nicht um Verzeihung, noch nicht einmal um Dein Verständnis. Ich möchte nur ein wenig von Deiner Zeit. Denn was ich jetzt niederschreibe, habe ich noch nie jemandem gesagt, es betrifft nur Dich und mich."